INVERSIERTES KAINSMAL ODER ›DU SOLLST NICHT LEBEN‹

Man weiß, man wird bald sterben, und das ist nicht zu sehen. Im Schatten dieser Erkenntnis, ist es im Grunde genommen denkbar einfach: Es gibt da etwas, dass seit meiner Geburt versucht, mich umzubringen. Es ist zwar unglaublich, aber so ist das nun mal, und man braucht nach keiner anderen Erklärung zu suchen. Man ist sich ziemlich sicher, daß es sich in einem Selbstgespräch permanent aufsagen würde: »Weder kennt man seinen Namen noch seine Adresse. Man weiß nicht einmal, wie er aussieht, doch man wird ihn finden und töten

Crucifimient: eine allzu anachronistische Metapher fürs Schreiben

Das Gekritzelte, die Schrift, verfällt nicht einfach jener Kritzelei, mit der sie unter der Hand des Schreibenden entsteht. Sie verhält beinahe immer zugleich nah und fern sich zu der weißen Fläche des leeren Blattes. Das genetische Moment von beiden ist, dass sie beide in einem doppelten Sinn eine spezifische Diffusion erfahren: erstens, durch beide vermittelt und zweitens, als etwas, was nicht direkt eine Ordnung ergibt, oder anders gesagt, nur durch eine äußerste Diskretion eine logische Form erfährt. Eine ursprüngliche Trennung der Trieb- und der Trennungsenergien ist die Bedingung der Möglichkeit, daß die Dialektik der Schrift, als Dauerspur, und dem unbeschriebenen Blatt, als Platzhalter für die Neugier der lebendigen Mitteilung, in eine Transposition des Schreibens lebenslänglich gleich umzuwandeln vermag. Die leere Fläche wird mittels der geläufigen Hand zurückgedrängt, während die Fläche, alsbald die Tinte vom Blatt aufgesogen, an ihren Ränder allmählich kristallin eintrocknet. Es ist durchaus vorstellbar, daß die leere Fläche des Blattes unter der imaginär abhebenden und absorbierenden Projektion des Schreibenden nahezu entsprechend abwartend, viel zäher und allmählicher als die Schrift, sich ihren Weg durch diese »Nullzone« bahnt, weil diese verschwindend bemerkbar in die erstarrende Form des materiell Eingeschriebenen als »Sinn an sich« unweigerlich einsickert. Diese »Leere« stößt nun den materiellen Körper der Zeichen mit einer gemächlicheren Bewegung, als die nagende Kritik der Mäuse, unwahrnehmbar wieder von sich ab. Insgeheim blamiert dieser Vorgang, jede Vorstellung, die der Schrift die Rolle zuweist, den Sinn zu inkarnieren, da dieser doch im vereinten Spiel mit anderen Schrifttechniken, Sinn generiert. Die Geste der Schrift rührt eher aus der Kritzelei her, als aus dem Gekritzelten, weil das Gekritzelte die Wahrheit als das Gewordene und die Intention der Kritzelei in sich aufhebt. Dem Rest der Geste hingegen, jenes Bezeugen des Schreibenden, dass es sich bei der Schrift um seinen Akt, seine Performation handelt, bleibt fast nur noch unwahrnehmbar als dieses so tun als obDie Gesten während des Kritzelns decken wiederum sich nicht immer völlig mit diesem Rest. Genau dieser Rest aber ist klüger als der Autor, weil die Person, die die Schrift verfaßt und die Rolle des Schriftstellers spielt, mit dem Autor nicht identisch sein muß.1 Als Chiffre ist dies der Schrift zu entnehmen, als ein Schnippchen, daß dem Autor jederzeit geschlagen werden kann, welches die Differenz von Sage und Schreibe, des Wortwörtlich-Nehmens und des Wörtlich-Nehmens, das in der Schrift, ohne den Wunsch, als Vater des Gedankens permanent entstellend, den Stachel aus dem Fleisch der Zeichen zieht. Die Namen werden wie Wächter darüber entscheiden, was noch zu dem, was zu sagen war, Einlass gewährt wird.2

1 Bereits aus diesem Umstand ließe sich eine allgemeine Theorie der fiktionalen Narration entwickeln.

2 Es wird – entgegen allem Schein – die materielle Einschreibung, eben nicht den Sinn, die Bedeutung der Schrift über eine wie auch immer geartete Vergewisserung der materiellen Substanz der Zeichen absichern können.

»Von der wunderbaren Gnade der Schwerkraft.«

Die Fähigkeit sich noch über etwas beschweren, beklagen zu können, heißt sich einer Kontingenz zu widmen, bei der man sich endlich der ganzen Gravität seiner Subjektivität gewahr werden kann. Um dabei sich nichts, nicht mehr vorzumachen als nötig, ist es ratsam, zu wissen, welcher Kriterien es bedarf, wie mit einer Klage etwas konkret übertrieben werden kann. Daß ist insofern wichtig, weil es sich dabei auch um unwahrscheinliche Fälle handelt, also schlichtweg um ein wahres Moment. So können wenigstens die Leiden für eine freischwebende Aufmerksamkeit bedacht werden, ähnlich wie bei einem hypochondrischen Typ, der sein phantastisches Gemüt diskret verbirgt, und dennoch auf mannigfaltigen Umwegen, permanent Leidenssymptome erfindet, zugleich entdeckt, damit irgendwann einmal, auf Gnaden des kommenden Tages sein Begehren anerkannt wird, da er doch intuitiv weiß: beinahe nichts will die Stabilität der Libido garantieren.1

1 Herbert Marcuse schreibt von dem, was für die Organisation der Libido beim Einzelnen und seinem gesellschaftlichen Setting eine relevante Rolle spielt: Da „das Realitätsprinzip in der menschlichen Entwicklung stets von neuem befestigt werden muß, deutet darauf hin, daß sein Sieg über das Lustprinzip niemals vollständig und niemals sicher ist. Nach Freuds Auffassung bedeutet Kultur kein endgültiges Ende eines »Naturzustandes«. Was die Kultur bändigt und unterdrückt – die Ansprüche des Lustprinzips –, das lebt weiterhin in der Kultur selbst fort. Das Unbewußte behält die Ziele des überwundenen Lustprinzips bei.“ [Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Einleitung, S. 21, Frankfurt/M. 1978.]

»Ich kann eine Waffe herstellen ohne Rücksicht auf…« –

Es ist möglich, durch das Schreiben eine Aufrichtigkeit zu erlernen, die als emergierende Aktivität mit einer schweigenden Deixis sich verbindet: Wer denkt, hat rückhaltlos mit einem bösen Blick darauf zu achten, was durch die Menschen spricht. Es ist keineswegs eine Sprache, die durch sie spricht, sondern es erfordert eine Sprache, die selbst noch zum Sprechen gebracht werden muß, will man die ausdruckslosen Aspekte ihrer Wirklichkeit beredt werden lassen. Da man auf einen Denker nicht hören muß, kann er diesen Umstand dazu nutzen, sich dem eitlen Irrtum zu enthalten, Verstehen mit Anerkennen um jeden Preis verwechseln zu wollen. Welche Rolle würde es spielen, wenn er so tun würde, als ob er es verstünde, daß man ihn verstehen muß; es kann sich einer bewußtlos stellen, aber bewußt? Gelingt ihm das, so kann er sich das Vermögen erschließen, seinen Erinnerungen der Form nach eine besondere Wirklichkeit zukommen zu lassen, in dem er seine Erinnerungen mit Respekt, d. h., sie aufrichtig behandelt.

BIS IN DIE FINGERSPITZEN HINEIN UNWAHRSCHEINLICH

Daß einige meinen, Überheblichkeit sei eine meiner nennenswerten Schwächen, bestätigt insgeheim meine Entscheidung, diese bis zur Unfehlbarkeit zu verfeinern, nicht um einzigartig oder der Einzige – was man persönlich und menschlich uninteressant findet – sondern um der Erste und der Beste in dieser Tugend, bzw. Schwäche zu werden; erachtet man es doch als Recht, in unübertroffener Gelassenheit sich selbst zu genießen; was mit keinem lässigen Humor korrespondiert, mit dem man, um sich über sich selbst lustig zu machen, ungeduldig auf Pointen aus ist. Welche Gewißheit, welches Glück kann man sich also mit dieser Meinung verschaffen? Wenn ich darauf eine Antwort wüßte, würde es die Tragödie meines Daseins bedeuten, nichts davon zu wissen? Dank meiner ziemlich nachahmbaren Idiotie fürs Realeweiß ich, daß dieses Wissen, wenn es denn ein Glück sein sollte, unschätzbar sein müsste. Ob es jedoch ausreicht, bloß weiteren herablassenden Gesten, weiterer Verachtung aus dem Weg zu gehen, kann ich nicht präzise bestimmen; was von dem Umstand herrühren mag, daß für mich nicht zu erfahren war, ob es überhaupt jemanden nützt, die insinuierte Verachtung, die man dem Wort entnahm, nur Reiche könnten sich mit schönen Dingen beschäftigen, nur sie könnten in Muße Sinn für Ironie entwickeln, dem zuzuschreiben, der dieses Wort schrieb.1 Wie ist es also um die Selbstachtung des Lesers bestellt, wenn er dem Schreiber dieses Wortes nur im geringsten recht gäbe, wie dies auch immer denjenigen erscheinen mag, die wegen des entre nous der Privatkorrespondenz mit einem Freund vordergründig nicht als Adressaten vorgesehen waren? Gestattet es sich der Leser jedoch, dem Schreiber Recht zu geben, zieht er dann nicht zurecht den Verdacht auf sich, daß er für sich selbst die schamlose Selbstauflösung gewählt hat? Daß ich von anderen nicht verstanden werden muß, huscht an den Fingerspitzen, mit denen ich diese Schrift flunkere, als etwas Unwahrscheinliches vorüber. Es wäre also eine reine Lüge, würde man behaupten, es sei für mich eine reine Nervensache, von anderen verstanden werden zu müssen. Die Möglichkeit, von Anderen nicht verstanden zu werden, kann freilich für so einen wie mich, der nur einer unter vielen ist, die sich so ihre Gedanken machen, zu einer intellektuellen Gefahr werden, unbedingt verwundern muß dies jedoch nicht; auch dann nicht, wenn die Admiration dieses Heckmecks einen dem Risiko entheben würde, was einen Schreiber in seiner Eitelkeit, verstanden werden zu wollen, kränkt. Nichtsdestotrotz muß man nicht resignieren, um sich selber sagen zu können, das man die Welt nicht ohne die Anderen versteht; es ist ja wahr, daß man mich nicht verstehen muß.

1 Besagten Gedanken entwickelte ich aus dem Wort, daß, laut Ronald. M. Schernikau, Coco Chanel gesagt haben soll: „ich mag die reichen lieber als die armen, es sind leute, die sich zeit nehmen können für schöne dinge.“ Ähnlich muß die Poesie sich zur Armut stellen. Um sich das Ächzen und das Krächzen vom Leib zu halten, muß sie dekretieren: nur der Reichtum ist liebenswürdig. Den wirklich Armen kann sie nicht brauchen. Auch die Idylle macht davon keine wirkliche Ausnahme. [Ronald M. Schernikau, legende, Teil VIII, ein Lied für rostock, S. 686, Dresden 2003.]

CAPTATIO BENEVOLENTIAE EINES BANKROTTEN EGOISTEN

»Oft sah er [Goethe] nach den Sternen, von denen man ihm sagte, daß sie bei seiner Geburt eingestanden haben; hier mußte die Einbildungskraft der Mutter oft das Unmögliche thun, um seinen Forschungen Genüge zu leisten, und so hatte er bald heraus, daß Jupiter und Venus die Regenten und Beschützer seiner Geschicke sein würden. Kein Spielwerk konnte ihn nun mehr fesseln, als das Zahlbret seines Vaters, auf dem er mit Zahlpfennigen die Stellung der Gestirne nachmachte, wie er sie gesehen hatte; er stellte dieses Zahlbret an sein Bett und glaubte sich dadurch dem Einfluß seiner günstigen Sterne näher gerückt. Er sagte auch oft zur Mutter sorgenvoll: die Sterne werden mich doch nicht vergessen und werden halten, was sie bei meiner Wiege versprochen haben? Da sagte die Mutter: warum willst Du denn mit Gewalt den Beistand der Sterne, da wir andere doch ohne sie fertig werden müssen? Da sagte er ganz stolz: ›mit dem, was anderen Leuten genügt, kann ich nicht fertig werden.‹«1 – »Selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag: ›die Sterne, die begehrt man nicht.‹«2 Orientiert man sich nicht dennoch durch die kaum überbrückbaren historischen Abgründe zu Shakespeare und Goethe hindurch mit einem Begehren, das durch Schwierigkeiten wächst, sei auch der fernste Stern, wie das zerstreuteste Supplement, dessen kometenhafte Immanenz diskontinuierlich versucht und verführt, wie der Geist, der zu faul ist, die Wollust zu verfluchen? Wie wenig würde es kosten, dieser Wollust nachzugehen, ohne sie dabei einem Gesetz preiszugeben?3 – Ja sogar ohne je ein Gesetz des Begehrens zu verraten, bzw. zu behaupten? – Auch wenn man dabei einem literarischen Parcours folgen würde, der kein Ankommen vor dem Gesetz erlaubte, noch ein Entkommen von diesem verhinderte, so bliebe einem nichts weiter, als endlich auf sich selbst zu besinnen, in dem man ein kurioses Tonikum aus einem exquisiten Kadaver zerstreut, den man dieser Welt noch schuldet, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, weshalb es einen derart plagt, in einem Leben, daß alles andere als lebendig ist, jene Universalgeschichte der Kontingenz auszuhalten, derweil es einem wichtig erscheint, ein subjektives Vermögen zu gewinnen, mit dem man das Unbedingte denkt; jedoch erscheinen die Momente, welche das Selbstbewußtsein bestimmen, nicht bündig konkret, sondern allgemein und abstrakt und nicht wirklich des Zwangs und der ausschließenden Prinzipien entledigt. Und weil bis dato das Bedrängteste noch nie je wirklich geglückte Begriffe auszusprechen vermochte, zeigen gewiß Zeilen, die ein unglückliches Bewußtsein dokumentieren: »Spricht nicht der Mond, wie aus des Taxidermisten Hand entlassen, ins Ohr des blauen Münzkabinetts: Wie traurig ist’s, jemandes Freude zu sein? Wärst du dort, fortgerissen,überschwemmt, am Rand toter Stimmen, zurückgelassen ohne Alibi, grausam wie ein jedes Wort, daß einmal ein Gedicht war?«

1 Goethe-Gespräche, Bd. 10, S. 1, Hrsg. v. Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1-10, Leipzig 1889-1896.

2 Friedrich Nietzsche, WuB 1, Menschliches, Allzumenschliches, 162. Kultus des Genies aus Eitelkeit, S. 553-554, München/Wien 1954. Nietzsche zitiert mit „die Sterne, die begehrt man nicht“ Goethe; vgl. Goethe, Berliner Ausgabe (Sigle: BA) Bd. 1, Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827), Trost in Tränen, S. 61, Berlin 1960 ff.

3 In dem Gedicht Sonnet D’automne [Herbst-Sonett] aus Baudelaires Les Fleurs du Mal, Spleen et Idéal [Die Blumen des Bösen, Spleen und Ideal] heißt es: „je hais la passion et l’esprit me fait mal.“ – „Ich hasse die Leidenschaft und der Geist erregt mir Übelkeit.“ [Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, In acht Bänden, Les Fleurs Du Mal, LXIV Sonnet D’automne, S. 184, V. 8, bzw. LXIV, Herbst-Sonett, S. 185, Hrsg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Übers. der Briefe v. Guido Meister, Übers. d. Gedichte und Kommentar von Friedhelm Kemp, München/Wien 1975.]

»La visagéité«

»La visagéité.« – Es mag sein, daß manchem unter uns es erscheint, das die Erfindung des Menschen dem Ende der Menschen zuvorkommt. Jedoch darf man nicht das paradox Offene dabei übersehen, daß in demselben Bann die Zukunft vorbereitender Menschen als Vorstellung gebraucht wird, die es noch immer zu entziffern gilt: deren Güte, deren Wert, ironisch gesagt, als Arglist dieser jetzigen Welt nicht dieselbe bleibt. Die permanent den Orkus des Individuums als etwas Heiliges kodifiziert, in dem sie sich als Form, als Ideal permanent modifiziert, in dem sie auswechselt, im wesentlichen durch »ihre« symbolische Struktur allen als die Vorgängigkeit des Sinns verändert erscheint; mittels einer List, die nicht nur multipler Namen sich zu bedienen weiß. Sie kann dies, nicht nur weil sie jeden Namen benutzen – sondern auch, weil sie in völliger Klarheit behaupten – kann, wie: Alle sind schon immer und von Natur aus Mensch. Indem ihr die Praxis des Menschen verwirklicht, seid ihr dem Menschen gleich. Ihr seht mit denselben Augen, hört mit denselben Ohren und sprecht mit denselben Mund. Es gibt da nicht den geringsten Unterschied. Diese List bedient sich der reinen Identität, der truglosen Identifikation, die als Schein, als Spektakel, mit dem das gesellschaftliche Verhältnis, als abstrakte und sachliche Herrschaft über und durch alle hindurch, sich ihrer als einer uralten und religiösen Magie bedient: Es ist wie eine fixe Idee, die es nicht gestattet, das man sie fixiert. Sie ist die Herausforderung für die Ideologiekritik, weil sie das Ansichseiende als das Dynamische in aller Gewalt des Zusammenhangs behauptet.